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China: Xiao 孝 auf dem Friedhof

Was haben die 24 Geschichten mustergültiger Pietät mit Friedhöfen zu tun? Die im Ostasien Verlag erschienene Publikation „Die 24 Pietätsgeschichten der Religionskundlichen Sammlung Marburg und ihr kulturgeschichtlicher Hintergrund“ (2020) lieferte mir den Anlass, über die Verbindung von xiao 孝 und letzten Ruheplätzen in China zu schreiben.

Das chinesische Zeichen xiao 孝 wird im Allgemeinen mit „kindlicher Pietät“ übersetzt. Diese ist ein grundlegendes Konzept aus dem Konfuzianismus und umfasst den Gehorsam, die Liebe und die Fürsorge gegenüber den Eltern. In der späteren Han-Zeit, also im 2. und 3. Jahrhundert n.Chr., wurde das Xiaojing 孝經, der „Klassiker der Kindespietät“ oder „Leitfaden der kindlichen Liebe“, dessen Autorenschaft Schülern des Konfuzius zugeschrieben wird, sehr populär. Einzelne Geschichten, die mustergültiges Verhalten von Söhnen und Töchtern gegenüber ihren Eltern und Schwiegereltern konkretisierten, entstanden zur selben Zeit, wie entsprechende Grabbeigaben belegen.

Nun gibt es viele Möglichkeiten, die Liebe zu den Eltern zu demonstrieren, aber besonders eng ist das Zeichen Xiao (erstaunlicherweise?) mit Tod, Beerdigung und Trauer verbunden. „Das neue Chinesisch-Deutsche Wörterbuch“ (tägliches vertrautes Arbeitswerkzeug von Generationen von Sinologiestudierenden) nennt unter xiao 孝 als erste Bedeutung: Kindespflicht, Pietät. An zweiter Stelle: „Trauer, Trauerkleidung, in Trauer sein; drittens (veraltet): während der Trauerzeit geltende Verbote. Als xiao zi 孝子 werden der pietätvolle Sohn bzw. die pietätvollen Söhne oder Kinder bezeichnet. Und die finden sich wiederum auch auf vielen Grabmalen, vor allem auf den modernen Friedhöfen.

Ehrfürchtet errichtet vom pietätvollen Sohn

Dass man Chinesisch sowohl waagerecht als auch senkrecht schreiben kann, ist ein Vorteil bei der Beschriftung bei Reihengrabsteinen bzw. hohen Grabmalen. Bei der üblichen Aufteilung der Beschriftung auf chinesischen Grabmalen stehen rechts die Lebensdaten, in der Mitte der Name des Verstorbenen bzw. des Ehepaars, und links unten lassen sich die Kinder und Söhne, die den Grabstein aufstellen lassen, verewigen. Über ihren Namen steht dann sehr oft xiao zi 孝子 = der pietätvolle Sohn bzw. die pietätvollen Söhne oder Kinder.

Links unten die Namen der drei „ehrfurchtsvollen Kinder“ xiao zi 孝子

Dongyong und die „Weberin“

Zurück zu den 24 Geschichten mustergültiger Pietät. Dieser Kerl fiel mir auf einem Friedhof in Peking, der auch sonst besonders viele dekorative, symbolträchtige Elemente aufwies, ins Auge. Er stellt Dong Yong 董永 dar, einen Protagonisten aus den 24 Geschichten mustergültiger Pietät (Ershisi xiao gushi 二十四孝故事). Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung der bereits erwähnten frühen Beispiele zu außergewöhnlicher Kindespietät, die in ihrer heute noch populären Form auf die Yuan-Zeit (1279-1368) zurückgeführt und dem Autor Guo Jujing 郭居敬, gest. 1354, zugeschrieben wird.

Besagter Dong Yong war so arm, dass er seinem verstorbenen Vater keine angemessene Beerdigung bieten konnte. Also begab er sich in ein sklavenähnliches Arbeitsverhältnis, um das Geld dafür zu verdienen. Dabei traf er eine schöne junge Frau, die sich ihm anschloss. Statt in drei Jahren hatte er sein Arbeitssoll in einem Monat erledigt und war wieder frei. Leider konnte er die Frau nicht heirateten, denn sie war – beeindruckt von der starken Liebe zu seinem Vater – vom Himmel herab gestiegen, um ihm zu helfen, und nun musste sie wieder zurück. Und Dong Yong ist bis heute nicht vergessen, steht hier auf dem Friedhof, um die junge Generation an ihre Verpflichtung zu mahnen, für ein ordentliches Begräbnis von Vater und Mutter zu sorgen. Koste was koste..

Statue des Dong Yong auf einem Pekinger Friedhof

Neuerscheinung: Die 24 Pietätsgeschichten

Die 24 Pietätsgeschichten der Religionskundlichen Sammlung Marburg und ihr kulturgeschichtlicher Hintergrund“ sind 2020 im OSTASIEN Verlag herausgegeben worden. Ende der 70er Jahre erwarb die Religionskundliche Sammlung Marburg eine Reihe religiöser Bilder aus einer Sammlung in Taiwan, unter denen sich auch ein vollständiger Satz von „24 Pietätsgeschichten“ befand. Die Bilder von einem unbekannten Maler sind wahrscheinlich in den 1950er Jahren entstanden und beruhen auf der populären Ausgabe der 24 Pietätsgeschichten aus der mongolischen Yuan-Zeit. Die Publikation beinhaltet hochwertige Farbreproduktionen der Bilder samt Text, eine deutsche Übersetzung und der Texte und einen Kommentar zu jeder Geschichte. In der Einführung liefern die Autorinnen Barbara Kaulbach und Dorothee Schaab-Hanke einen Überblick über die Textgeschichte der „24 Pietätsgeschichten“ und ihren kulturellen Hintergrund bzw. ihre Ausstrahlung. Die Einführung enthält außerdem zahlreiche Abbildungen zu den 24 Geschichten aus historischen Ausgaben sowie von Reliefziegeln, die in Gräbern der Han-Zeit gefunden wurden.

Über Dong Yong habe ich erfahren, dass er eine historische Person ist, und dass es sich bei der mysteriösen Unsterblichen um die „Weberin“ handelt, und dass ihrer beider Liebesgeschichte vielfach in Theater, Oper oder Film inszeniert worden ist.

Zwei weitere Geschichten, in denen der Tod oder das Verhältnis zu Toten eine Rolle spielen, sind die von Wang Pou und Ding Lan. Wang Pou lief immer bei Gewitter zum Grab seiner Mutter, die sich im Leben vor Donner gefürchtet hatte, um sie zu trösten. Ding Lan schnitzte zwei Figuren aus Holz, die seine früh verstorbenen Eltern repräsentierten, und die er bei wichtigen Entscheidungen zu Rate zog. In einer anderen Version quälte seine Ehefrau die Figuren, und als er das merkte (die Figuren weinten!), verstieß er seine Frau.

Manche der Geschichten sind noch bizarrer und wirken in unserer modernen Zeit schlichtweg absurd. Meine Besuche auf Friedhöfen und bei Beerdigungen in China, aber auch Erfahrungen im Alltag haben mir aber gezeigt, dass das Konzept des xiao in der Gesellschaft und in den Einstellungen vieler Menschen bewusst und unbewusst weiterhin eine große Rolle spielt. Dass es auch staatlich (wieder) gefördert wird, mag mit der Alterung des Gesellschaft und der drängenden Frage „Wer versorgt die Alten?“ zu tun haben. Und daher haben die „24 Pietätsgeschichten“ einen sehr aktuellen Bezug und tragen zum Verständnis des chinesischen „Mindset“ bei.

Kaulbach, Barbara: Die 24 Pietätsgeschichten der Religionskundlichen Sammlung Marburg und ihr kulturgeschichtlicher Hintergrund, OSTASIEN Verlag, 59 Seiten mit 17 SW- und 43 Farbabbildungen, März 2020. 29,80 Euro

„Stories of 24 dutiful sons“ im Shanxi Provincial Museum, Taiyuan

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