Gestern war ich wieder ein Mal auf dem Friedhof des Künstlerdorfes Fischerhude bei Bremen. Außer den Künstlern und Künstlerinnen, die hier ruhen und deren Leben und Schaffen verhältnismäßig gut dokumentiert ist, sprangen mir wieder einige Schicksale ins Auge, die mich rätseln und grübeln lassen. In der nordwestlichen Ecke des Friedhofs sind mehrere Mitglieder der Familie Schott versammelt. Nach den Geburtsorten zu urteilen, liegen ihre Wurzeln offensichtlich im Nordosten Europas, zum Beispiel in Reval, der heutigen estnischen Hauptstadt Tallin. 1897 wurden nach einer Statistik rund 15.000 Menschen im unter russischer Verwaltung stehenden Gouvernement Estland verzeichnet, deren Sprache Deutsch war. Mich sprach vor allem das Schicksal von Vera Schott an, die am 18. Juli 1904 in St. Petersburg geboren worden war, also noch praktisch in die weißen Nächte hinein. Ihren Mann überlebte sie um 30 Jahre und starb 1998 in Wentorf (bei Hamburg). Ob sie als Kind überhaupt länger im zaristischen St. Petersburg gelebt hat, sagt mitr die Inschrift nicht, aber ich versuche mir vorzustellen, wie sie als alte Dame in den 1990ern wohl an ihre Kindheit und Jugend zurückgedacht hat? So gesehen erzeugen die Grabzeichen meistens mehr Fragen als dass sie Antworten liefern. Diese muss man woanders suchen. Frau Buthmann, die den Friedhof betreut, sagte mir am Telefon, die Familie sei aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geflohen und nach 1945 in Fischerhude untergekommen. Die Nachkommen bzw. Grabberechtigten leben heute wohl nicht mehr in Fischerhude.
Ergänzung zur Geschichte der Deutschbalten
In „Das schwarze Pferd“ (Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg) von 1923 hat der Übersetzer Alexander Nitzberg viele Anmerkungen eingefügt, u.a. einen Kontext zu den Deutschbalten, der eine Ahnung davon gibt, was es mit den Schotts in Fischerhude auf sich haben mag:
Die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen gehörten seit 1721 zum Russischen Reich; die Deutschbalten, seit dem Mittelalter dort ansässig, waren die wirtschaftlich und gesellschaftlich dominierende Bevölkerungsgruppe. Im Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen dem Deutschen Reich und der bolschewistischen Regierung wurde im März 1918 die Unabhängigkeit der baltischen Länder festgelegt. Im November 1918 begann eine Offensive der Roten Armee gegen die baltischen Staaten, die noch von deutschen Truppen besetzt waren. Der estnische Sowjet erklärte die gesamt baltische Aristokratie für rechtlos und ordnete ihre Deportation an. Im Bürgerkrieg standen die meisten Deutschbalten auf Seiten der Weißen und litten unter den Terrormaßnahmen der Roten Armee. (Fußnote zu S. 22 (S. 193)
Quelle: Boris Sawinkow: Das schwarze Pferd, erschienen bei Galiani, Berlin, 2017
Auch zu Heinrich und Grete Bohling konnte Frau Buthmann Auskunft geben, da sie die 1987 verstorbene Grete Bohling persönlich gekannt hat. Ihren Mann Heinrich hatte sie im Krieg geheiratet, bevor er an die Front musste. Gestorben im Februar 1946 „in Gefangenschaft in Leningrad.“ Das Leningrad von 1946 war eine andere Stadt als St. Petersburg 1904. 1946 hatte Leningrad die Blockade durch die Wehrmacht hinter sich, die vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 gedauert hatte und während der etwa eine Million Menschen verhungerten. An Heinrich Bohling wird in Fischerhude erinnert, sein Leichnam wird in Russland geblieben sein. Wie Grete wohl vom Tod ihres Mannes erfahren hat? Sein Schicksal berührt mich auch deshalb, weil mein Vater ebenfalls in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen ist. Er hatte aber das Glück, 1949 zurück zu kommen.
Feodor Szerbakow. Masuren – Worpswede – Fischerhude
Auf dem Friedhof in Fischerhude ruht zusammen mit seiner Frau Frieda auch der Maler Feodor Szerbakow, der – geboren am 20. Februar 1911 als Theodor Szerbakowski in Masuren/Ostpreußen – kürzlich seinen 110. Geburtstag hätte begehen können. 2018 hatte ich auf einer Auktion unbeabsichtigt (als Folge eines Zahlendrehers) ein Bild mit Sonnenblumen, signiert mit „F. Szerbakowski“ erstanden, der mir nicht bekannt war. Kurz darauf besuchte ich bei einer von zahlreichen Radtouren nach Fischerhude erstmals den Friedhof, und wie es der Zufall wollte, stand ich zwei Minuten später vor diesem Grabstein. Hier lag also „mein“ Szerbakow, der anlässlich einer Ausstellung zu seinem 90. Geburtstag im Februar 2001 als Altmeister der Künstlerkolonie Worpswede bezeichnet wurde.
Szerbakow ging mit 17 Jahren erst nach Stettin, um Malerei zu lernen, und dann nach Berlin, wo er in den 1930er Jahren Otto Modersohn kennenlernte. 1933 zog er nach Worpswede. Eine Kurzbiografie von Feodor Szerbakow findet sich bei Wikipedia.