In Ohlsdorf befinden sich „viele kleine Friedhöfe im großen Friedhof“, wie es auf der eigenen Website heißt. Einer davon ist der „Chinesische Friedhof“, der an die Einwanderungsgeschichte von Chinesen in die Hansestadt erinnert. Etwas versteckt und von Hecken und Rhododendren geschützt liegt er im Planquadrat Bp 68 an der Eichenchaussee, nördlich der Kapelle 13 und nahe zum Eingang Brahmfelder Allee im Osten des weitläufigen Parkfriedhofs.

Chinesischer Friedhof auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Foto: ML
2024 konnte der Chinesische Friedhof sein 95-jähriges Bestehen feiern. Am 10. Oktober 1929 trafen sich ca. 50 Chinesen im Nachtclub Cheong Shing (Große Mauer, 长城 Hochchinesisch: changcheng) an der Großen Freiheit 11 und gründeten den „Chinesischen Verein in Hamburg“. Eine der ersten Handlungen des neuen Vereins war es, auf dem Ohlsdorfer Friedhof ein Grabfeld speziell für chinesische Seeleute zu pachten. Die Anlage und Pflege des chinesischen Grabfeldes entsprach dem, was auch in China zu jener Zeit üblich war, wenn eine Überführung des Leichnams aus praktischen oder finanziellen Gründen nicht möglich war: Neben den Familiengrabstätten gab es von unterschiedlichen Vereinigungen – zumeist nach Herkunftsort organisierten Landsmannschaften und Berufsgilden – verwaltete und betreute Friedhöfe, die sich um die „letzten Dinge“ ihrer Mitglieder kümmerten.
Wer waren die Chinesen in Hamburg?
Ende des 19. Jahrhunderts hatten deutsche Schifffahrtsgesellschaften wie die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) in Hamburg und der Norddeutsche Lloyd (NDL) in Bremen begonnen, chinesische Seeleute auf ihren Dampfschiffen anzustellen. Sie übernahmen vor allem die unangenehmen und körperlich schweren Arbeiten als Heizer und Trimmer. Letztere transportierten die Kohle aus Bunkern zu den Öfen, ihr Arbeitsplatz war heiß, staubig und ohne Tageslicht. Später übernahmen sie auch die Wäscherei. Die Arbeiter wurden in Hongkong und Shanghai angeheuert und stammten zumeist aus der Provinz Guangdong (früher: Kanton) und aus der Hafenstadt Ningbo in der Provinz Zhejiang. Um die Jahrhundertwende waren es bereits tausende, die auf deutschen Dampfschiffen um die Welt fuhren. Mit der Ausdehnung des Handels und der Dampfschifffahrt kamen immer mehr Seeleute aus verschiedenen Ländern nach Hamburg. Die Mehrheit von ihnen blieb nur kurz, aber einige blieben und fungierten bei guten Deutschkenntnissen als Vermittler zwischen Behörden und Matrosen oder boten Dienstleistungen für Seeleute an, zum Beispiel Restaurants mit chinesischer Küche und Schiffsaufrüster.
Eine größere Welle der Immigration folgte nach dem ersten Weltkrieg. Am 20. Mai 2021 hatte die Weimarer Republik mit der chinesischen Regierung ein Abkommen unterzeichnet, das es chinesischen Bürgern möglich machte, sich in Deutschland niederzulassen, um „Handel und Industrie zu betreiben“. So entstand in den 1920er Jahren im Hafenviertel St. Pauli an der Grenze zum preußischen Altona, rund um die Schmuckstraße und Talstraße, eine „China Town“, das Chinesenviertel. Viele Seeleute ergriffen die Gelegenheit, die Plackerei auf den Schiffen hinter sich zu lassen und gründeten Wäschereien, Läden, Kneipen oder Herbergen für ihre Landsleute. Genau Zahlen sind nicht bekannt, es können zeitweise um die 2000 Personen gewesen sein, die in St. Pauli und Altona lebten. (WDR 13. Mai 2004: Vor 60 Jahren: Chinesen in Hamburg verhaftet) Dabei waren „die Chinesen“ beileibe keine homogene Gruppe: Zu den mit der Seefahrt verbundenen Kantonesen kam eine wachsende Gruppe von Menschen aus Qingtian in Zhejiang, die sich als „Hausierer“, betätigten. Diese Gruppe war besonders mobil, da sich ihr Netzwerk über viele europäische Großstädte erstreckte. Für die Hamburger, aber auch auswärtige Reisende, strahlte die Gegend um die Schmuckstraße mit den Firmenschildern in chinesischen Zeichen ein geheimnisvolles, exotisches, und manchmal auch bedrohliches Flair aus.

In Hamburg St. Pauli erinnert diese Plakatwand an die chinesichen Bewohner des Viertels. Foto: Lao Du (2024)
Zwei Etablissements an der „Großen Freiheit“ in Altona, deren Angebot sich auch Deutsche richteten und die weit über die Grenzen Hamburgs bekannt waren, waren der bereits erwähnte Nachtclub Cheong Shing und das „Neu-China“. Hier gab es Cabaret und chinesische Speisen und die Gäste tanzten zu Jazz-Musik. Es waren Orte, an denen die in der Mehrzahl männlichen chinesischen Einwanderer deutsche Frauen kennenlernen konnten. So bildeten sich auch einige gemischte Paare, wobei die Frauen bei der Eheschließung automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft verloren und „Chinesinnen“ wurden. Die Wirtschaftskrise des Jahres 1929 setzte den „Goldenen Zwanzigern“ ein Ende, kurz darauf folgte die Machtübernahme der Nationalsozialisten mit ihrer menschenverachtenden Rassenpolitik, die auch chinesischen Menschen das Leben in Deutschland immer schwerer machte.
Tiefpunkt in der Nazi-Zeit
Am 13. Mai 1944 wurden etwa 130 (manche Quellen nennen 160) Chinesen, die in Hamburg zurückgeblieben waren, im Rahmen der sogenannten „Chinesenaktion“ von der GESTAPO festgenommen und zunächst in das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht, später in ein Arbeitslager in Hamburg-Wilhelmsburg. Mindestens 17 Menschen starben an den Folgen der „Chinesenaktion“.
Nach 1945 blieben nur wenige der Überlebenden in Hamburg. Einer von ihnen war Chong Tin Lam, an den heute ein Stolperstein erinnert. Der 1907 in Kanton geborene Chong, das ist sein Nachname, kam 1936 als Koch nach Hamburg und übernahm 1938 mit seiner Lebensgefährtin, der aus Polen stammenden Lina Donatius, die berühmte Hong Kong Bar am Hamburger Berg 14. Das Paar hatte eine Tochter, die 1942 geboren wurde, wegen der Kriegsumstände aber größtenteils in Heidelberg aufwuchs. Auch Chong war Opfer der Verhaftungen im Jahr 1944. Nach Kriegsende bemühte er sich wie auch die anderen Hamburger Chinesen erfolglos um Entschädigung für das erlittene Leid – erfolglos, weil das Gericht befand, dass kein „rassistisches Motiv zu erkennen“ sei. Chong eröffnete die Hongkong Bar wieder und starb 1983 in Hamburg, bevor er seinen Traum, noch einmal nach China zu reisen, wahrmachen konnte. Die Hongkong Bar – das letzte Überbleibsel von Hamburgs China Town – wurde als Pension mit Kneipe von Chongs Tochter Mariette Solty bis 2020 weitergeführt. Mariette Solty verstarb 2021.
Ein weiterer Stolperstein vor der Schmuckstraße 7 wurde für den Gastwirt Woo Lie Kien (1885–1944), verlegt, der 1926 als Heizer in Hamburg angekommen war. Nachdem er bei der Chinesenaktion verhaftet und in Fuhlsbüttel misshandelt worden war, starb er am 23. November 1944 an den Folgen im Krankenhaus Barmbek.

Stolperstein in St. Pauli für Woo Lie Kien, Opfer der „Chinesen-Aktion“. Foto: Lao Du (2024)
Während heute nur noch eine dreisprachige, vom St.-Pauli-Archiv errichtete Informationstafel und einige Stolpersteine an das einst so lebhafte „Chinesenviertel“ in St. Pauli erinnern, stellt das chinesische Grabfeld auf dem Ohlsdorfer Friedhof ein würdiges Denkmal für diese Protagonisten der Globalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.
Von St. Pauli zurück nach Ohlsdorf
Der alte chinesische Friedhof besteht aus einer Grünfläche mit Platz für 104 Wahlgräbern für Särge. Geteilt wird sie durch einen Mittelweg, an dessen Kopf von Rhododendron umrahmt, drei mannshohe, weiße Gedenksteine stehen: Der Mittlere trägt die Inschrift: „Zum Andenken an die in Hamburg verstorbenen chinesischen Seeleute u. Staatsangehörigen“ oder in Chinesisch: „Friedhof der Auslandschinesen der Republik China“ Zhonghua huaqiao zhi mu. 中华华侨之墓
Aus der rechten Stele aus dem Jahr 1971 ist das Relief eines Männertorsos im Halbprofil herausgearbeitet, eine Arbeit des Bildhauers Herbert Glink. Sie ist Chen Chun Ching gewidmet, geb. am 30.5.1908 und gest. am 1.8.1971. Chen Chun Ching (in heute verbreiteter Pinyin-Umschrift Chen Shunqing 陈顺庆) ist der Sohn von Chen Chiling, der 1915 aus Ningbo nach Hamburg kam und im Auftrag des Norddeutschen Lloyd als Arbeitsvermittler für chinesische Seeleute fungierte. Er hatte Anfang der 1920er einen Seemannsclub gegründet, aus dem 1929 der Chinesische Verein hervorging. Chen Shunqing kam 1924 nach Hamburg, um seinen Vater zu unterstützen. Er betrieb später zunächst mehrere Wäschereien und nach 1945 ein Restaurant. Ab 1954 war er Vorsitzender des Chinesischen Vereins. Eine seine ersten Handlungen soll es gewesen sein, mit chinesischen Seeleuten den Friedhof zu besuchen, um Unkraut zu jäten und ihn wieder herzurichten. Wie sein Sohn, Martin Mingjie Chen, 2021 in einem Video-Interview sagte, ist Chen Chunying allerdings gar nicht hier bestattet, es handelt sich also um ein Zenotaph. Martin Chen leitet in dritter Generation das Chinesische Seemannsheim in Eppendorf. Der dritte Stein auf der linken Seite ist mit Reihen roter Schriftzeichen in dreier oder zweier Gruppen bedeckt. Es handelt sich um die Namen von hier bestatteten Chinesen, deren Grabstellen aufgelöst wurden.

Gedenkstein für Chen Chun Ching 1908-1971, Chinesischer Friedhof Ohlsdorf
Auf der gut gepflegten Anlage sind zahlreiche kleinformatige, liegende Grabplatten zu sehen, meist zweisprachig beschriftet, entweder in roter oder schwarzer Schrift auf weiß, oder gold auf schwarz. Neben den Namen in lateinischen Buchstaben sind die Geburts- und Sterbedaten und der Herkunftsort (rechts, senkrecht) oft nur in chinesischen Zeichen festgehalten. Auf vielen Grabstellen stehen frische Blumen. Asiatische Symbolik ist die Ausnahme, im August 2022 waren nur ein Löwenpaar und eine kleine Buddhafigur zu sehen. Am Rand, halb unter den Büschen versteckt, lagerte ein Metalleiner, wie man ihn auch oft auf Friedhöfen in China sieht: Wahrscheinlich wird hier – besonders zum Totengedenkfest Qingming Anfang April – Weihrauch oder Papiergeld für die Ahnen verbrannt.



Einzelne Grabsteine auf dem chinesischen Friedhof Ohlsdorf
Neues Grabfeld
Seit Oktober 2006 gibt es auf dem Ohlsdorfer Friedhof in der Nähe von Kapelle 10 im Planquadrat O 35 noch ein zweites chinesisches Grabfeld. Nutzungsberechtigter ist ebenfalls der Chinesische Verein. Die Gestaltung ist mit einem Mittelweg, der zwei Rasenflächen trennt, ähnlich wie beim alten Grabfeld, allerdings bewachen hier zwei fast mannshohe, weiße Löwenfiguren auf Sockeln den Eingang. Am Kopf des Weges steht ein ähnlicher Stein wie auf dem alten Friedhof, die Aufschrift lautet: „Zum Andenken an die in Hamburg verstorbenen chinesischen Mitbürger“. Auf dem neuen Friedhof stehen den Mitgliedern des Vereins 92 Wahlgräber für Särge zur Verfügung. Die Grabsteine stehen in Reih und Glied, es dominieren die Farben rot und schwarz, goldene Inschriften auf poliertem Stein. Vielfach sind stilisierte Blumenmotive eingraviert und außer den Namen werden fast nur chinesische Zeichen verwendet.

Eingang zum neuen chinesischen Grabfeld auf dem Osterholzer Friedhof


In Hamburg sollen heute etwa 10.000 Menschen mit chinesischen Wurzeln leben, so viel wie in keiner anderen deutschen Stadt. Die Anlage des neuen Grabfeldes vor 18 Jahren zeigt, dass viele in der Hansestadt verwurzelt sind, auch wenn es keine „China Town“ mehr gibt.
Buchtipp zur Geschichte der Chinesen in Hamburg: „Fremde – Hafen – Stadt“ von Lars Amenda, Dölling und Galitz Verlag 2006