Nach einer längeren Pause möchte ich jetzt im dunklen November ein paar Eindrücke vom 1. November – Allerheiligen – teilen. Sie stammen von einem Besuch auf dem Rassos Friedhof (auch: Rasų kapinės, poln. Cmentarz Na Rossie) im gleichnamigen Stadtviertel in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Er liegt im Süden der Stadt, nicht weit vom Bahnhof, vom Tor der Morgenröte dauerte es keine 20 Minuten, ihn zu Fuß zu erreichen.
Am Nachmittag gegen 15 Uhr ist der Parkplatz am Eingang schon gut belegt. Links vom Eingangstor – außerhalb der Mauer – liegen schlichte Soldatengräber in mehreren Reihen aus dem Jahr 1920. Im Zentrum ein größeres Denkmal, eine schwarze Mamorplatte, auf dem bereits viele Kränze liegen und Grablichter stehen – viele Besucher kommen zuerst hierher, bevor sie den Friedhof betreten. Nach meinen späteren Recherchen müsste hier das Herz von Józef Piłsudski (1867 in Zułowo, Gouvernment Wilna – 1935 in Warschau) liegen, einem polnischen Staatsmann und Militär, der maßgeblich an der Unabhängigkeit eines polnischen Staates im Rahmen der Zweiten Polnischen Republik beteiligt war, und bis zu seinem Tod 1935 wechselnde politische Funktionen inne hatte, unter anderem als Verteidigungsminister. Die Grüße kommen auch aus Polen, ich lese Ortsnamen wie Częstochowa und Białystok.
Am Friedhofseingang warten junge Leute in Uniformen, die teils nach Armee und teils nach Pfadfindern aussehen. Sie haben geholfen, auf allen Gräbern – vor allem vor jenen, die niemand mehr besucht – Grablichter aufzustellen. Am Nachmittag ist es aber noch hell genug, um den Friedhof kennenzulernen.
Der Rassos-Friedhof wurde 1801 eröffnet, etwa zehn Jahre früher als der Bernhardiner Friedhof im Stadtteil Užupis. Die erste Bestattung fand am 24. April desselben Jahres statt. In über 200 Jahren hat sich hier illustre Gesellschaft von Prominenten versammelt, Politiker, Literaten, Künstler, Wissenschaftler… Einzelne Areale sind mit Buchstaben bezeichnet und es gibt Detailpläne, auf denen die bekannten Personen, die in dem Abschnitt liegen, verzeichnet sind. Trotzdem ist es nicht leicht, sie zu finden. Wer alles genau wissen möchte, schließt sich besser einer Führung an.
Wenn man sich hinter dem Eingang nach links wendet, kommt man bald zum Grab von Adam Piłsudski, dem jüngeren Bruder von Marschall Józef Piłsudski. Adam Piłsudski (1869-1935) war Mitglied des polnischen Senats und Vizepräsident von Wilna. Adam und Jozef starben im selben Jahr. Auch ihre Mutter wurde auf dem Rasos Friedhof bestattet. Blumen hat Adam in diesem Jahr nicht bekommen.
Auf dem Literatenhügel treffe ich den (mir bisher unbekannten) belarussischen Dramaturgen Francisak Alachnovic (1883-1944). 1907 hatte er die Warschauer Theaterhochschule abgeschlossen, von 1920 bis 1926 arbeitete er als Redakteur und Theaterregisseur in Vilnius. 1927 wurde er in der belarussichen Sowjetrepublik festgenommen und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Nach sieben Jahren kam er frei, da er gegen einen andern Häftling ausgetauscht wurde und verarbeitete seine Erlebnisse im Solovki-Gefangenenlager im Weißen Meer (dem ersten GULAG der neu gegründeten Sowjetunion) in dem Buch „In den Klauen der GPU“ (1937). Der Autor selbst verfasste es in drei Sprachversionen, nämlich in belarussischer, polnischer und russischer Sprache, später wurde es in weitere Sprachen übersetzt. Eine deutsche Version habe ich nicht gefunden. (Zur Geschichte des Gulags empfehle ich das Buch „Gulag: A History“ von Anne Applebaum von 2003, welches ich gelesen habe. Und eine dreiteilige Dokumentation bei ARTE: Gulag – In den Arbeitslagern der Sowjetunion (bis 20.12.2022 abrufbar). Ab 1933 lebte Francisak Alachnovic wieder in Vilnius, gab die Zeitung „Belarussiche Stimme“ (Biełaruski hołas) heraus und arbeitete laut Wikibrief mit Nazideutschland zusammen. 1944 wurde Alachnovic ermordet. Im Gegensatz zu Adam Piłsudski hat an Alachnovic‘ Grab jemand Blumen abgelegt.
Leider ist mir die litauische und polnische intellektuelle und künstlerische Prominenz, die auf dem Rassos Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden hat, bei Weitem nicht so bekannt wie die Stars des Père Lachaise in Paris. Auch ist die Geschichte rund um die Stadt Vilnius, um Litauen, Polen und die weiteren beteiligten Mächte so komplex, dass ich mich da lieber sehr zurückhalte. Allein die Recherchen nach den Piłsudski-Brüdern und Alachnovic haben mich ein paar Stunden gekostet, und ob das dann alles so stimmt, was man im Internet findet, müsste ja auch erst einmal geprüft werden..). Deshalb nun nur noch ein paar atmosphärische Eindrücke, die vielleicht Lust machen, sich mit der spannenden Geschichte des nordöstlichen Europas zu beschäftigen. (Noch eine Bemerkung am Rande: Meine Russichlehrerin ist litauische Staatsbürgerin, ihr Vater Russe, ihre Mutter Polin. Sie hat drei Muttersprachen, worum ich sie unendlich beneide!)
An einem Ort sehe ich eine Frau, die dort lange steht und liest oder betet. Ich möchte sie nicht stören und gehe erst später an die Stelle, wo ich errate, dass es sich um die Gedenkstätte für ungeborene (abgetriebene) Kinder handelt.
Gegen 17 Uhr ist es dann schon ziemlich dunkel und die Grablampen entfalten ihre Wirkung. Viele Menschen spazieren zu dieser Stunde über den Friedhof und genießen die spezielle Atmosphäre. Auch ein paar professionelle Fotografen sind unterwegs, einer lässt sogar eine Drohne über das Tal fliegen, um DAS besondere Bild zu schießen.
Als ich den Friedhof verlasse (kalt, hungrig, durstig), strömen noch immer viele Menschen auf den Friedhof. Auf dem Parklpatz ist inzwischen kaum mehr ein freier Platz zu finden. Eigentlich ist es erstaunlich, dass niemand hier heißen Kaffee, Tee oder Suppe anbietet. Ich dürfte nicht die einzige sein, der die feuchte Kälte in die Knochen gekrochen ist.
Am 2. November – Allerseelen – habe ich den oben erwähnten Bernhardiner Friedhof im Stadtteil Užupis (Vilnius) besucht. Obwohl es regnete, nutzten auch dort viele Menschen den Feiertag für einen Besuch und eine Führung. Dazu mehr später.
Weitere Links:
Der Rassos Friedhof bei Go Vilnius – die offizielle Entwicklungsagentur der Stadt Vilnius