Besonders interessieren mich auf Friedhöfen die Spuren menschlicher Wanderungen, von Migration, gewollt oder ungewollt, zufällig oder geplant. Schon seit Ende des ersten Weltkriegs hatte Paris eine nicht unerhebliche asiatische Bevölkerung – Chinesen, Vietnamesen, Laoten und Kambodianer. Sie waren während des Krieges als Arbeitskräfte angeworben wurden, und manche/viele waren geblieben. Eine zweite Welle von Migranten aus Asien kam in den 60ern, als viele vor Krieg und politischer Unsicherheit flohen. Grabstätten dieser Bevölkerungsgruppe – leicht erkennbar, da meist mit chinesischen Zeichen versehen – sieht man vereinzelt, aber nicht selten auf den städtischen Friedhöfen wie Montparnasse und Père Lachaise. Nie hätte ich mir träumen lassen, den asiatischen Einfluss auch auf dem Tierfriedhof zu finden!
Auf gleißend weißem Marmor ist eine Liebeserklärung an Xixi Xu (徐西西) zu lesen, die von 1998 und 2018 lebte. Das hohe, senkrechte Grabmal trägt einen typisch chinesischen, geschnitzten Aufsatz aus zwei ineinander verschlungenen Drachen, die das Foto einer weißen Perserkatze umrahmen. So lautet der Text, das Original ist in Französisch:
Xixi, liebste, ich denke an dich
Die Welt existiert nur für eine Katze
Vergeblich suche ich nach Nachrichten von Dir,
du siehst mich, aber ich dich nicht
Deine Pupillen reflektieren mein Bild
Leben, Tod, für mich … kein Geheimnis mehr
Meine Augen folgen der Klarheit
und durch die Finsternis
führe ich dich zur Ewigkeit.
Dass mein Herz sich nach dir sehnt!
Allein, aber bereit, dich zu beschützen
dir Glück, Frieden und Weisheit zu geben
Mama, die dich liebt
Wie also stelle ich mir die trauernde Besitzerin vor? Wohlhabend, einsam und ohne Kinder oder Lebenspartner? Fern der Heimat und voller Heimweh? Nur die schnurrende, anschmiegsame Xixi, die Trost bietet? Der Grabstein deutet auf ein gewisses finanzielles Polster hin, so das andere Bilder, die meine Phantasie mir schickt – eine verarmte, alte Matriarchin in einem düsteren, vollgestopften Kämmerlein, die sich für ihre Xixi alles vom Mund abspart – sich nicht recht durchsetzen können. Ob sich Xixis Mama schon eine neue Katze geholt hat?
Alt liegt hier gleich neben neu. Man sieht, wie sich die Bestattungsmoden verändert haben, auf den ersten Blick ganz ähnlich zu jenen bei den letzten Ruhestätten der human species – von den grauen Steinen mit rauer Oberfläche (Granit?) mit eingemeißelten Hundeköpfen im Relief oder ganzen Skulpturen hin zu den glänzend-glatt polierten, mit lasergravierten Bildern verzierten Marmorsteinen der jüngsten Zeit, die das Fotografieren schwer machen, weil sich die Fotografin immer darin spiegelt und ungewollt Teil des Objekts wird.
Die neueren Grabmale sind vielseitig, beliebt ist die Herzform oder auch die aedicula, bei der dem Grabstein ein Dach und zwei Säulen beigegeben ist, so dass es wie ein kleines Haus oder „Tempelchen“ wirkt. Was weitgehend fehlt: christliche Symbole und christliche Sprüche! Stattdessen beinah inflationär viele Engel, die Mittler zwischen Mensch und Jenseits, die den Trost spenden sollen, der im Christentum für Tiere nicht vorgesehen ist. Der Mensch sollte das Tier zwar gut behandeln, es aber auch nutzen, ein Tier zu töten ist keine Sünde, denn es ist ja ohne Seele. So heißt es in der Schöpfungsgeschichte: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (1. Mose 1,28).
Aus den Anfängen des Friedhofes gibt es kleine Häuschen, die mich an historischen Fotos von bestimmten chinesischen Grabformen erinnern, aber vielleicht doch eher Hundehütten darstellen sollen. Tatsächlich habe ich so eine kleine steinerne „Hundehütte“ mit dem Datum 1899 entdeckt, sie steht zwischen zwei völlig bemoosten Steinplatten und dürfte also eines der ältesten Gräber hier sein. Viele Besitzer haben Porzellanbildchen ihrer Lieblinge anbringen lassen, schwarz-weiß oder farbig, manchmal kaum noch erkennbar und durch die Witterung über mehrere Jahrzehnte zu abstrakten Kunstwerken geformt. Außerdem sehe ich dieselben farbigen Porzellanblumen, vor allem Rosen und Stiefmütterchen, die mir am nächsten Tag auch auf dem berühmten Père Lachaise Friedhof ins Auge fallen. Typischer französischer Grabschmuck? Einige alte Grabplatten aus den 1930er bis 1950ern sind zu Treppenstufen umfunktioniert worden.
Da die Lebensspanne der meisten Haustiere viel kürzer ist, als die ihrer Besitzer, sind viele Gräber mit mehreren Tieren belegt:
„Für unseren Quick“
4.8.1967 – 3.1.1983
„Für unseren Quick II“
13.9.1984 – 15.11.1998
Die Trauerzeit wurde großzügig eingehalten.
Fortsetzung folgt