Am 19. Oktober 1936 starb Lu Xun 鲁迅, einer der bedeundsten Intellektuellen Chinas, an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung in Shanghai. Am 22. Oktober wurde er auf dem International Cemetery, auch Wanguo Gongmu 万国公墓 beigesetzt. Zwanzig Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1956, wurden die sterblichen Überreste vom Wanguo Friedhof in den Stadtbezirk Hongkou verlegt, wo er gewohnt hatte. Der ehemalige Hongkou Park ist heute der „Lu Xun Park”.
Die Ereignisse rund um Lu Xuns Tod sind in dem sehr anschaulichen und detailreichen Beitrag des englischen Sinologen und Übersetzers William John Francis Jenner mit dem Titel „Lu Xun’s Last Days and after“ nachgezeichnet (erschienen in China Quarterly, September 1982). Laut Jenner war der Tod des Schriftstellers das einschneidendste öffentliche Ereignis der Republikzeit, allerhöchstens übertroffen vom Tod Sun Yatsens.
Das Bestattungskomitee für Lu Xun, das sich nur wenige Stunden nach seinem Tod bildete, bestand aus Freunden und illustren Persönlichkeiten: dem ehemaligen Bildungsminister und Rektor der Peking Universität Cai Yuanpei, dem japanischen Buchhändler Uchiyama Kanzō 内山完造, Madame Sun Yatsen alias Song Qingling, die die Grabstätte finanzierte, der US-Journalistin Agnes Smedley, dem Juristen Shen Junru, dem Dichter und späteren Ehemann Eva Xiaos Xiao San, Cao Jinghua, Xu Shoushang, dem Schriftsteller Mao Dun, Hu Yuzhi, Hu Feng und Lu Xuns jüngeren Brüdern Zhou Zuoren und Zhou Jianren. Ein weiteres Komitee für praktische Belange setzte sich aus jungen Schriftstellern zusammen, die Lu Xun gefördert hatte. Das Mingxing Film Studio schickte ein Team, das Filmaufnahmen machte. Am Nachmittag des Todestages wurde der Leichnam ins Shanghai International Wanguo Funeral Home gebracht, wo in der ersten Nacht Freunde die Totenwache hielten. Am folgenden Tag wurde er in der großen Halle im Erdgeschoss öffentlich aufgebahrt. Die Trauernden kamen aus allen Gesellschaftsschichten – von Schülern über Arbeiter bis hin zu den Mächtigen und Einflussreichen der Stadt. 9.000 Menschen trugen sich in das Kondolenzbuch ein. Am 22. Oktober wurde der Sarg geschlossen und am Nachmittag in einer langen Prozession zum Wanguo-Friedhof gebracht. Weil die internationale Konzession Sorge hatte, dass der Trauerzug für eine antijapanische oder anti-imperialistische Demonstration genutzt werden könnte, gab es Polizeischutz. Am Grab wurden mehrere Reden gehalten, u.a. von Cai Yuanpei und Song Qingling.
Über das Schicksal des Wanguo Gongmu schrieb YangziMan, alias Eric N. Danielson, am 14. November 2013 in einem Beitrag mit dem Titel „Shanghai’s Lost Foreigner Cemeteries„:
„The International Cemetery (Wanguo Gongmu) established at the intersection of Hongqiao Road and Songyuan Road in 1909 was destroyed by Red Guards at the start of the Cultural Revolution in 1966, and has been the site of Song Qingling’s Tomb Garden (Song Qingling Mu Yuan 宋庆龄墓园) since 1981.“
Heute heißt der Park Song Qingling Mausoleum Park 宋庆龄陵园. Neben dem Grab von Song Qinglin, gibt es dort ein Areal für berühmte Chinesen (mingren muyuan 名人墓园) und eines für Ausländer (waijiren muyuan 外籍人墓园). Die Stelle, an der Lu Xun 1936 beigesetzt wurde, ist durch einen Stein gekennzeichnet.
Der ursprüngliche Grabstein wurde im Krieg zerstört und in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre von seinem Freund, dem Buchladenbesitzer Uchiyama Kanzô, erneuert. (Siehe Müller, Gotelind: „Between History, Heritage, and Foreign Relation“, Fußnote 69, S. 15)
In Lu Xuns Werk spielt der Tod immer wieder eine große Rolle, z.B. in Form von Kannibalismus wie in „Tagebuch eines Verrückten“ aus dem Jahr 1918. Kurz vor seinem eigenen Ende hatte Lu Xun einen Essay mit dem Titel „Tod“ verfasst, in den er auch eine Art Testament einflocht:
„Wenn ich ein Edelmann mit einem großen Vermögen wäre, hätten meine Söhne und Schwiegersöhne mich schon längst gezwungen, ein Testament zu schreiben. Aber so hat niemand zu mir davon gesprochen. Trotzdem will ich eins hinterlassen und habe mir für meine Familie einige Punkte zurechtgelegt, unter anderem folgende:
- Nehmt von niemandem auch nur einen Pfennig für das Begräbnis – ausgenommen von alten Freunden.
- Macht es kurz, beerdigt mich, und Schluss.
- Bitte keine Grabreden.
- Vergesst mich und kümmert euch um euer eigenes Leben – wenn nicht, seid ihr selbst schuld.
- Wenn mein Sohn erwachsen ist und keine besonderen Talente zeigt, soll er einen bescheidenen Beruf ausüben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auf keinen Fall soll er ein nichtssagender Schriftsteller oder Künstler werden.
- Verlasst euch nicht auf die Versprechen anderer.
- Gebt euch nicht mit Leuten ab, die anderen Schaden zufügen, aber gleichzeitig das Prinzip der Vergeltung ablehnen und Toleranz predigen.“
William Jenner meint, das Begräbnis sei zweifellos größer ausgefallen, als Lu Xun es sich selbst gewünscht hätte, aber immerhin sei es von Freunden organisiert und kein „verlogenes Staatsbegräbnis“ gewesen.
An einem sonnigen Vormittag im April 2024 waren im Lu Xun Park vor allem ältere Leute unterwegs. Reisebüros boten supergünstige Seniorenreisen an. Vor dem Grab Lu Xuns war wenig los, einige wenige Rentner:innen übten im Schatten der Bäume Taijiquan, andere rauchten und plauderten.
Zum Umgang mit Ausländerfriedhöfen in China hat die Sinologin Prof. Dr. Gotelind Müller von der Universität Heidelberg mehrere Aufsätze publiziert, die online vorliegen. Die Geschichte des Wanguo Gongmu in Shanghai, der kommerziell geführt wurde und allen offen stand, „die sich eine Grabstelle leisten konnten“, zeichnet sie in „Between history, heritage, and foreign relations: Extant Westerners’ cemeteries in Guangzhou and Shanghai“ (2018) nach.