Auf dem Babaoshan Revolutionsfriedhof in der chinesischen Hauptstadt Beijing liegen eine ganze Reihe von Nicht-ChinesInnen. Bei meinem ersten Besuch im April 2018 stolperte ich als erstes über das Grab von Dorothy Richardson Adler, geboren 1918, gestorben 1963.
Eine ganze Reihe Ausländer, illustre Gestalten, die im 20. Jahrhundert Entscheidungen für eine Utopie trafen und sich entgegen des großen Trends freiwillig für ein Leben in der Volkrepublik entschieden, haben ihre letzte Ruhestätte auf dem Babaoshan Revolutionary Cemetery gefunden. Manche waren schon vor 1949 gekommen, in den 1930ern und 1940ern, darunter nicht wenige Deutsche und Österreicher. Denen, die jüdischer Abstammung waren rettete diese Entscheidung in den meisten Fällen das Leben. Bei meinem ersten, sehr spontanen Besuch im April 2018 stolperte ich als erstes über das Grab von
Dorothy Richardson Adler
1918.3.8. — 1963.3.25.
Am Grab gab es keine weiteren Informationen und sofort fragte ich mich: Wer um Himmels Willen war Dorothy? Drei bescheidene Nelken und eine Rose schmückten ihren Sarkophag, als hätte jemand sie da verloren. Kein Epitaph, der dem zufälligen, aber neugierigen Besucher Auskunft über ihr Leben und ihre Verdienste geben würde. Als ich kurz darauf an einem Stand vorbeikam, wo Blumen verkauft wurden, wählte ich ein kleines Gesteck für die unbekannte und scheinbar vergessene Dorothy aus. „Wer warst du, Dorothy?“, fragte ich mich lange, und versuchte mir vorzustellen, was diese Frau, ein Jahr älter als mein Vater, offensichtlich Amerikanerin oder Britin, nach China verschlagen haben mochte. Wie und woran war sie gestorben, im März 1963, kurz nach der Hungersnot des Großen Sprungs und drei Jahre vor dem Ausbruch der Kulturrevolution?
Erst später – zurück in Deutschland und ohne Internetbeschränkungen – komme ich dazu, über Dorothy zu recherchieren. Viel gibt es nicht: 1962 kam sie mit ihrem Mann Solomon (Sol) Adler nach Peking und starb kurz darauf „tragisch“ bei einem Unfall. Immerhin blieb ihr die Kulturevolution erspart. Ihr Mann, ein US-amerikanischer Ökonom, heiratete kurze Zeit später wieder und lebte mit seiner zweiten Ehefrau, der Englischlehrerin Pat Adler, geborene Davies, bis zu seinem Tod 1994 in einem Hofhaus in Peking. Wie ihr Mann war Dorothy Wirtschaftswissenschaftlerin (Cambridge), aber über ihre Arbeit habe ich nichts gefunden. Wie mir Beverly Hooper, Autorin von Foreigners Under Mao. Western Lives in China 1949–1976 (Hong Kong University Press, 2016) auf meine Anfrage hin schrieb, hatte sie ihre Karriere aufgegeben, um Sol Adler nach China zu folgen. Sol Adler war zwischen 1941 und 1947 in Chongqing als Vertreter des US-amerikanischen Finanzministeriums tätig gewesen, 1950 wurde er während der McCarthy Ära als sowjetischer Spion verdächtigt und ging nach einigen Jahren der Lehrtätigkeit in Cambridge 1962 nach China zurück. Sol Adler starb 1994 und gemäß seinem Wunsch wurde seine Asche nicht aufbewahrt und es existiert kein Grab.