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Bestattung in China. Auszug aus dem Roman „Mitgefühl“ von Lu Nei

Grab in Fujian China

Im Oktober 2022 ist meine Übersetzung des chinesischen Romans 《慈悲》(Cí­bēi) von Lu Nei unter dem deutschen Titel „Mitgefühl“ erschienen.

Der Roman spielt im Arbeitermilieu, in einer Chemiefabrik in der Gegend von Suzhou, Provinz Jiangsu. Abgedeckt wird der Zeitraum von ca. 1960 bis 2010. Den Hintergrund zur Lebensgeschichte des Protagonisten CHEN Shuisheng bilden die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der VR China, vom „Großen Sprung“ um 1960, in dessen Folge Millionen Chinesen verhungerten, über die Kulturrevolution, die Wirtschaftsreformen in den 1990ern mit ihren Privatisierungen und Schließungen von Staatsunternehmen, und dem darauf folgenden Jahren des „wilden“ Kapitalismus, der viele Leute schnell reich werden ließ.

Das ist der Autor Lu Nei © Lu Nei

In dem Roman gibt es immer wieder Szenen, die Tod und Bestattung, die Einstellung zum Sterben oder die Beziehung der Lebenden zu den Toten zum Inhalt haben. Es folgen ein Ausschnitt aus Kapitel 11, der zeitlich im Jahr 1976 zu verorten ist, und ein kurzer Abschnitt aus Kapitel 30, der etwa zwanzig Jahre später spielt.

Aus Kapitel 11 – Bestattung des Onkels

Früher hatte der der Onkel immer gesagt, seine Asche solle im Fluss verstreut werden, aber das hatte er nur so dahin gesagt, sein wirklicher Wunsch war es, in seinem Dorf begraben zu werden, aber da war ja niemand mehr. „Deine Großeltern und andere Verwandte“, sagte die Tante, „sind alle auf einem Hügel in Shiyang begraben“. 

Mit der in ein Leinentuch gewickelten Urne im Arm überquerte Shuisheng den Fluss, der breit dahinfloss. Auf der Fähre hockten viele Bauern und ein paar Jugendliche aus der Stadt, die zwangsweise aufs Land umgesiedelt waren. Die Bauern starrten in den Himmel und leckten sich über die Lippen, die Jugendlichen lehnten an der Reling, betrachteten die vorbeiziehende Landschaft und unterhielten sich leise. Auf der Fähre stand ein Lastwagen mit mehreren Gefangenen, die von Volksmilizionären mit geschulterten Bajonetten bewacht wurden. Ihr Ziel war der Steinbruch. Shuisheng ging zum Bug des Schiffes und schaute in die Wellen, eine Mischung aus Angst und Unruhe erfüllte ihn. Wenn sie das nächste Mal Totengeld verbrannten, würden es vier Tüten sein. Als die Fähre anlegte, fuhr zuerst der Lastwagen an Land und verschwand in einer dichten Wolke aus Staub wie ein riesiges Ungeheuer.

Auf der anderen Flussseite gab es kein weiteres Verkehrsmittel, also folgte Shuisheng erst einmal zu Fuß der Menge, die sich langsam zerstreute. Zwei landverschickte Jugendliche sagten, ihr Ziel sei ebenfalls Shiyang, und Shuisheng schloss sich ihnen an. „Bringst du jemandem eine warme Decke? Sitzt jemand aus deiner Familie ein?“, fragten die Jugendlichen. „Ein Kollege ist im Steinbruch“, antwortete Shuisheng. „Welches Vergehen?“ – „Sabotage an Produktionsmitteln.“ – „So einen hatten wir auch in der Brigade. Er wollte Heimurlaub haben, aber der Kader hat nicht zugestimmt. Da hat er vier Feldhacken zerstört, für jede Hacke hat er ein Jahr bekommen, also insgesamt vier.“ So gingen sie plaudernd weiter bis zum Mittag, dann zeigten die Jugendlichen auf einige Baracken und einen Aussichtsturm in der Ferne: Shiyang. „Das Arbeitslager ist noch ziemlich weit von hier. Du kannst im Dorf nach dem Weg fragen. Wir biegen hier ab zu unserer Brigade“, verabschiedeten sich die Jugendlichen.

Als Shuisheng im Dorf ankam, suchte er zunächst einen Brunnen und schöpfte sich etwas Wasser zum Trinken. Er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Als er den Kopf hob, bemerkte er, dass er sich nahe des Aussichtsturmes befand, aus dem jemand den Kopf heraussteckte und immer wieder „Shuisheng!“ rief. Es war sein Cousin Tugen, mit dem er hier verabredet war. Tugen kletterte vom Turm herab, über der Schulter trug er eine Feldhacke. „Gehen wir los“ sagte er, „die Urne begraben.“

Die beiden machten sich auf den Weg. „Warum ist denn die Tante nicht mitgekommen?“ fragte Tugen.

„Sie ist krank.“

„Ich hab gehört, sie heiratet wieder?“

„Quatsch, das ist nicht wahr.“

„Shuisheng, ich kann nicht mehr, ich hab nichts gefrühstückt.“

„Was esst ihr denn hier im Dorf zum Frühstück?“

Tugen ließ sich auf einem Stein nieder und wiederholte: „Ich kann wirklich nicht mehr.“

Shuisheng zog einen Jiao aus der Hosentasche und gab ihn Tugen. „Jetzt geht’s wieder ein Stück“, sagte er. Aber nachdem sie ein Stück weitergegangen waren, blieb Tugen wieder stehen und sagte erneut: „Ich kann nicht mehr weiter.“ Shuisheng gab Tugen kopfschüttelnd einen weiteren Jiao und Tugen setzte sich wieder in Bewegung. So ging es noch fünfmal, bis sie fast auf dem höchsten Punkt des Hügels angekommen waren „Ich kann auch nicht mehr“, sagte Shuisheng, „führ mich hier nicht kreuz und quer herum, sondern sage einfach frei heraus, wie viel Geld du haben willst.“

„Der Onkel ist schuld, weil er unbedingt auf dem Gipfel beerdigt werden will. Wenn’s am Fuß des Hügels wäre, dann wären fünfJiao genug. So aber möchte ich einen Yuan haben. Du hast mir schon fünf Jiao gegeben, gib noch fünf, dann passt’s.“

„Eigentlich wollte ich dir zwei Yuan geben, aber erst wenn der Onkel unter der Erde ist.“

Als er das hörte, ließ Tugen sich auf seinen Hintern fallen und sagte: „Ich will zwei Yuan.“

„Wir sind Verwandte, du solltest mich nicht alle paar Meter um einen Jiao erpressen.“

„Hier auf dem Land sind wir arm, von meinen drei Kindern hat nur eines Schuhe, die anderen müssen barfuß laufen. Wenn ich früher in die Stadt gegangen bin, hab ich dem Onkel ein bisschen Gemüse und ein paar Eier mitgebracht, und er hat mir jedes Mal zwei Yuan gegeben und mich zum Trinken eingeladen. Wenn ich manchmal ohne Gemüse und Eier zu ihm ging, hat er mir trotzdem zwei Yuan gegeben. Jetzt hab ich nur noch dich in der Stadt, aber ich weiß weder, wo du wohnst noch, ob du Gemüse oder Eier willst.“ Tugen wischte sich eine Träne von der Wange und murmelte: „Und der Onkel ist jetzt tot.“

„Du gehst mir auf die Nerven, halt den Mund“, sagte Shuisheng.

Endlich waren die beiden oben auf dem Hügel angelangt. Es war Herbst und jeder Windstoß wirbelte Blätter von den Bäumen. Überall waren Gräber. Tugen führte Shuisheng zu einer Grube mit einem kleinen Grabstein. Shuisheng kniete nieder, löste das Tuch, das um die Urne gewickelt war, und legte beides zusammen in die Grube. Tugen nahm die mitgebrachte Hacke und schaufelte Erde auf das Grab, bis schließlich ein kleiner Hügel entstanden war. Shuisheng nahm drei Weihrauchstäbchen aus seiner Tasche, machte drei Kotaus und stand wieder auf. Tugen machte es ihm nach und sah Shuisheng erwartungsvoll an, woraufhin dieser ihm anderthalb Yuan gab.

„Wo sind die Gräber meiner Großeltern?“, fragte Shuisheng.

„So alte Gräber findet man nicht mehr“, antwortete Tugen.

Shuisheng sah sich um und stellte fest: „Viele alte Gräber haben gar keinen Grabstein.“

„Da ist die gesamte Familie entweder verhungert oder vor Erschöpfung beim Graben des Reservoirs gestorben“, antwortete Tugen. „Wer braucht schon einen Grabstein, wenn keine Kinder oder Enkel da sind.“

„Wenn jemand stirbt, sollte doch zumindest ein Name übrig bleiben“, sagte Shuisheng. „Für die Märtyrer wird doch auch ein Stein aufgestellt, selbst wenn sie keine Nachkommen haben.“

„Nimm die Familie meiner Schwiegermutter – da sind drei Kinder verhungert und die Erwachsenen auch – niemand erinnert sich daran, wie sie hießen. Früher gab es Rituale und Bräuche, aber heute spricht niemand mehr davon. Nun ist der Onkel gestorben und nach der Tradition solltest du dich in weißes Trauerleinen kleiden und etwas Schnaps und Fleisch mitbringen. Aber wenn du das tätest, dann wäre das feudalistischer Aberglaube und die Volksmiliz würde dich holen. Hier liegen keine Märtyrer, nur Bauern.“

Zwanzig Jahre später

Viele Jahre später kehrt der Protagonist Shuisheng mit seiner erwachsenen Tochter Fusheng und dem Cousin Tugen noch einmal an denselben Ort zurück (Kapitel 30).

Am Gipfel angekommen, blieb Shuisheng erstaunt stehen. Er blickte auf einige imposante Grabsteine aus Granit mit steinernen Opfertischchen und Sockeln in Lotusblütenform davor. Eingefasst waren sie mit niedrigen Geländern ebenfalls aus Stein, verziert mit Löwenköpfen, die an Hunde erinnerten. Stolz sagte Tugen: „Damit hast du nicht gerechnet, oder? Letztes Jahr habe ich die Gräber meiner Eltern erneuert, und das von deinem Onkel gleich mit. Er hat sich um mich gekümmert, als ich klein war, und nun, da ich zu Geld gekommen bin, sollte ich ihn nicht vergessen.“

„Das hast du dir richtig was kosten lassen, nicht wahr?“, meinte Shuisheng.

„Eigentlich nicht. Nur die Steine und die Arbeiter, das Land kostet nichts. Der Granit kommt von hier und ist deshalb auch nicht teuer.“

„Nächstes Mal solltest du auf dem Grabstein Zeichen im Lishu-Stil verwenden.“

Shuisheng ließ sich auf der steinernen Umrandung nieder und betrachtete den Grabstein seines Onkels. Dabei wurde er ganz schwermütig und hörte sich selbst sagen: „Wenn ich tot bin, möchte ich auch hier begraben werden.“

„Gut“, antwortete Tugen. „Wenn das dein Wunsch ist, werde ich höchstpersönlich mit deiner Urne und einer Schaufel hier auf den Berg klettern und eigenhändig das Grab für dich ausheben und dich bestatten. Und du bekommst auch einen Grabstein aus Granit, ein Opfertischchen und ein Geländer. Dann werde ich niederknien und vor deinem Grab dreimal einen Kotau machen, vor Yushengs Grab ebenso. Du weißt, warum ich das tun werde.“

„Euer Gerede bringt Unglück“, unterbrach Fusheng die beiden.

„Fusheng, alle Menschen müssen sterben“, sagte Tugen. Dann überkam auch ihn ein Anflug von Schwermut. Er trat an Fusheng heran und klopfte ihr ganz leicht auf den Rücken. „Ich hoffe, du wirst mich nicht hassen, wenn ich sterbe, sondern auch vor meinem Grab einen Kotau machen.“

Hier geht’s zu einer Leseprobe vom Anfang des Romans „Mitgefühl“ (pdf).

Hier geht’s zu einer Rezension von „Mitgefühl“ im Magazin Konfuzius-Institut 3/2022

Termine für Buchvorstellungen / Lesungen:

2. Dezember 2022 18Uhr Konfuzius-Institut Leipzig
11. Dezember 2022 15 Uhr Konfuzius Institut Hamburg – Literatur im Teehaus
25. Januar 2023 Literarische Woche Bremen, Stadtbibliothek

Die Arbeit der Übersetzerin wurde im Rahmen des Programms «NEUSTART KULTUR» aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

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