Im Himalaya, fern ab von seiner Heimat im heutigen Rumänien, wurde der Autor des ersten tibetisch-englischen Wörterbuchs, Kőrösi Csoma Sándor (auch Alexander Csoma de Kőrös), begraben.
Im C.H. Beck Verlag ist im Januar 2021 ein sehr interessantes Buch erschienen, welches so gut wie nichts mit Friedhöfen zu tun hat. In dem Buch „Die seltsamsten Sprachen der Welt“ beschreibt der Autor Harald Haarmann, „einer der weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftler“
„kurzweilig und kenntnisreich 49 Sprachen mit seltsamen Eigenheiten: ungewöhnliche Lautsysteme, fremdartige Grammatiken, sonderbare Wortschätze, seltsame Zählweisen, Sprachen, die sich je nach sozialer Beziehung ändern, spezielle Sakralsprachen, rätselhaft…“
Zitat von der Verlagswebsite: https://www.chbeck.de/haarmann-seltsamsten-sprachen-welt/product/31845220
Einmal werden in dem 180-Seiten-Band allerdings doch Friedhöfe erwähnt, in dem Abschnitt über das Volk der Katu, die im Südosten von Laos und in Vietnam leben, insgesamt etwa 145.000 Menschen:
„Was auswärtige Besucher als Friedhöfe bezeichnen würden, sind die „Siedlungen“ der Vorfahren, deren Geister tagtäglich mit den Lebenden agieren und deren Geschicke lenken.“
Harald Haarmann: „Die seltsamsten Sprachen der Welt“, 6. Kapitel Sakral-, Ritual- und Tabu-Sprachen:
Mit den Ahnen sprechen: Die Parallelwelten der Katu“, S. 140
Das Buch ist eine wunderbare Erinnerung daran, wie unterschiedlich man die Welt erleben und interpretieren kann, und dass „normal“ ein sehr relativer Begriff ist.
Über die tibetische Sprache gibt es keine Ausführungen, trotzdem hat es mich an einen frühen Sprachforscher mit einer faszinierenden Lebensgeschichte denken lassen, der weit von seiner Heimat gestorben und begraben ist. 1989 stand ich während einer längeren Asienreise an seinem Grab, und wenn ich nicht mit einem Ungar unterwegs gewesen wäre, wäre die Bedeutung dieses Ortes wohl an mir vorbeigegangen. Auf dem English Cemetery von Darjeeling in Nordost-Indien liegt der Verfasser des ersten englisch-tibetischen Wörterbuchs, Kőrösi Csoma Sándor (1784-1842).
Im Österreichisch Bibliografischen Lexikon (Band IV, S. 4) wird er als Forschungsreisender und Orientalist bezeichnet. Er stammte aus Kőrös in Siebenbürgen (daher der Namensteil Körösi, was „Csoma Sandor aus Kőrös bedeutet), etwa 60 km nordöstlich von Brasov gelegen. Seine Familie gehörte zur ungarischsprachigen Volksgruppe der Székler, die heute noch in Siebenbürgen leben. Aufgrund seiner Begabung konnte Csoma am Collegium Bethlenianum in Nagyenyed (Siebenbürgen/Rumänien) Philologie und Theologie studieren. Mit einem Auslandsstipendium studierte er von 1815-1818 in Göttingen, hier unter anderem Türkisch, Arabisch und Englisch. In Göttingen hängt an dem Haus Weender Straße 31, wo er während seiner Studienzeit gewohnt hat, eine Gedenktafel.
In einer Rezension von „Der Mann, der zum Himmel ging: Ein Ungar in Tibet“ von Edward Fox (englische Ausgabe von 2001) schreibt der Rezensent Tibor Fazekas:
„Im calvinistischen Bethlen-Collegium von Großenyed (Aiud, Nagyenyed) erfasste ihn der romantische Anspruch, die um jene Zeit heftig umstrittene Herkunft der Ungarn zu erforschen.“
Zitiert nach: Fazekas, Tiborc: Rezension über: Edward Fox, „Der Mann, der zum Himmel ging„, Berlin: Wagenbach, 2006, in: Ungarn-Jahrbuch, 29 (2008), S. 527-529, DOI: 10.15463/rec.1189725998
Nach einer dieser Theorien stammten die Ungarn von den Xiongnu ab, einer Vereinigung von Reiterstämmen aus den südsibirischen Steppen, die zwischen dem 2. Jahrhundert vor und dem dritten Jahrhundert nach Chr. in einem zumeist (aber nicht immer) konfliktreichen und kriegerischen Verhältnis zur chinesischen Han-Dynastie standen. Zeitweise kontrollierten sie ein Gebiet von der heutigen Mongolei bis Zentralasien.
Im Jahr 1819 machte Csoma sich im Alter von 34 Jahren, zu Fuß auf die beschwerliche Reise nach Asien, mit der Absicht, die Urheimat der Ungarn zu entdecken. Sein Ziel waren die Westprovinzen Chinas, das heutige Xinjiang, das er aber nie erreichte. Das Reisen in jenen Zeiten war äußerst beschwerlich und gefährlich. Im Österreichisch Bibliografischen Lexikon heißt es weiter: „Als armenischer Kaufmann verkleidet, kam er 1821 durch Persien nach Buchara und über Afghanistan 1823 nach Westindien.“ Ob er auch armenisch fließend sprach, was die Rolle ja erst authentisch gemacht hätte, weiß ich nicht. Aufzeichnungen konnte er auf der Reise nicht machen, sie hätten ihn als Spion verdächtig gemacht.
1822 lernte er in Indien den englischen Tierarzt William Moorcroft kennen, der ihm riet, nach Tibet zu gehen und Tibetisch zu studieren und dieses Vorhaben auch finanziell unterstützte. In den nächsten sieben Jahren studierte Csoma tibetische Schriften, u.a. in Srinagar, in Leh und im Kloster Zangla im Königreich Zanskar. Dabei katalogisierte er 40.000 tibetanische Wörter. 1831 ging er auf Einladung der Asiatic Society of Bengal nach Kalkutta, wo er als Bibliothekar der Society arbeitete und seine Forschungsergebnisse sortierte. 1834 erschienen sein bahnbrechendes tibetanisch-englisches Wörterbuch und eine tibetanische Grammatik.
1842 trat er eine weitere Reise nach Tibet an, weiterhin auf der Suche nach dem Ursprung der Ungarn. Auf dem Weg erkrankte er an Malaria oder Gelbfieber und starb mit 58 Jahren. Begraben wurde er in Darjeeling.
Csoma war ein bescheidener Mann, der ein asketisches Leben führte und sich ganz der Wissenschaft widmete (bei Fox heißt es auch einmal „engstirnig und weltfremd“). Er sprach – und das ist die Brücke zu dem eingangs erwähnten und empfohlenen Buch – an die 20 Sprachen, neben Tibetisch und Englisch natürlich seine Muttersprache Ungarisch, außerdem Hebräisch, Arabisch, Sanskrit, Paschtu, Griechisch, Latein, Deutsch, English, Türkisch, Persisch, Französisch, Russisch, Hindi, Mahratta und Bengalisch.
In „Der Mann, der zum Himmel ging: Ein Ungar in Tibet“ wird Csomas Lebensleistung so beschrieben:
„Csomas Leistung war die – gründliche, zuverlässige und systematische – Einführung des gesamten Schrifttums einer Kultur in die westliche Welt, die dieser bis dahin völlig unbekannt war. Es war das wissenschaftliche Äquivalent zur Entdeckung eines neuen Kontinents. So gesehen kann sein Werk als eine der letzten großen europäischen Entdeckungen bezeichnet werden.“
Edward Fox, „Der Mann, der zum Himmel ging„, Berlin: Wagenbach, 2006,S. 54-55
Auf der Website von Darjeeling Tourism wird der English Cemetery als touristisches Ziel beschrieben, das an die frühen englischen Siedler erinnert, die hier die dicht bewaldeten Berghänge in Teeplantagen verwandelten. Die Anlage mit etwa 100 Gräbern stammt aus den 1840er Jahren, so dass die Grabstelle von Kőrösi Csoma Sandor von 1842 hier eine der ältesten ist. Während viele der englischen Gräber lange nicht gepflegt wurden, so der Autor entschuldigend, ist Csomas Grab – ein Fremder unter Fremden – gut erhalten. Die ungarische Botschaft in Indien lässt hier jährlich Kränze ablegen. Auf der Website gibt es ein aktuelleres Foto der Grabstelle.
Laut dem Artikel errichten Einwohner von Darjeeling in der „Hochsaison“ Tee- und Snack-Stände auf dem Friedhof. Mein mehrtägiger Besuch in Darjeeling war Anfang Dezember 1989 und ich habe ihn – vor allem abends nach Einbruch der Dunkelheit – als ziemlich kalt in Erinnerung!
Wie die Ergebnisse einer Internetsuche nach dem Grab auf Ungarisch zeigt („kőrösi csoma sandor sirja“), ist die Grabstelle, auch wenn sie recht abgelegen liegt, immer wieder Ziel von in Indien reisenden Ungarn und Ungarinnen. Hier ein Video von Zsolt Fodor auf Youtube von 2016, welches das Grab in seiner Umgebung aus der Vogelperspektive zeigt.
Literatur
- Edward Fox: „Der Mann, der zum Himmel ging. Ein Ungar in Tibet“. Aus dem Englischen von Caroline Einhäupl. Berlin, Wagenbach, 2006.
- Kató Lomb: “Harmony of Babel. Interviews with Famous Polyglotes“. Übersetzung vom Ungarischen ins Englische: Ádám Szegi), Ungarische Ausgabe 1988, englische Ausgabe 2013. S. 47-51.
- Bibliographie von Csoma Sándor von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
Ich finde es wäre richtig zu stellen sein Geburtsort ist nicht in Rumänien sondern heute Rumänien damals gehörte sein Heimat Ort zum Habsburger Reich eng mit Ungarn 🇭🇺 Verbundenen!
Hallo Herr Fodor,
vielen Dank für den Kommentar, da haben Sie natürlich recht.