Auf einer kurzen Herbstreise nach Litauen haben mich am meisten die Friedhöfe erstaunt und berührt, die nicht mehr existieren. Zuerst in Klaipėda, einer Stadt an der Ostsee, die bis zum ersten Weltkrieg zu Preußen gehörte und nie Teil Litauens oder Polens war.
Sie wurde um 1253 unter dem Namen Memel gegründet und war die älteste Stadt im späteren Ostpreußen. Wie Wikipedia schreibt, fand die Stadtgründung „unter entscheidender Mitwirkung Dortmunder (!) Kaufleute statt. Es gab Überlegungen, die Stadt Neu-Dortmund zu nennen.“ 1923 wurde die Stadt in Klaipėda umbenannt, die deutsche Bevölkerung sollte unter litauischer Verwaltung Autonomie behalten. Im März 1939 wurde die Stadt Klaipėda vom Deutschen Reich annektiert, im Oktober 1944 die Bevölkerung evakuiert. Am 28. Januar 1945 eroberte die Rote Armee Klaipėda. Bis 1990 war die Stadt Teil der Litauischen SSR, einer Unionsrepublik der Sowjetunion.
Eine Google-Suche nach „Klaipeda & Friedhof“ zeigte an jenem Oktobermittag mehrere Ergebnisse, aber zentral gelegen war nur der „Deutsche Friedhof“, der sich nach Google Maps am Rande des Statutenparks nicht weit vom Bahnhof entfernt befinden sollte.
Das erste was ich sah, als ich mich dem Park von Nordwesten näherte, war eine Gedenkstätte aus der Zeit der sowjetischen Besatzung mit einer Säule (siehe auch meinen Beitrag zu chinesischen Märtyrerfriedhöfen), einer aus drei Soldaten bestehenden Figurengruppe und Tafeln mit langen Kolonnen von Namen. Hier wird an die 1945 umgekommenen sowjetischen Soldanten erinnert, die im Kampf gegen die Nazis umgekommen sind. 700 Solddaten sollen hier begraben sein. Die Figurengruppe der drei Soldaten wurde erst 1980 (oder 1982) zum 35-jährigen Jubiläum der Einnahme Klaipedas aufgestellt. Die Namen von einigen hundert Toten sind auf mehreren Tafeln unterhalb der Säule festgehalten.
Der weitläufige Park war in seinem blendend-gelben Herbstlaub sehr schön. Die Statuen im Stil des sozialistischen Realismus, die ihm seinen Namen geben, waren aus den 1970er und 1980er Jahren. Wo aber war der Friedhof?? Erst vermutete ich ihn hinter einer Mauer, die den Park an der süd-östlichen Seite begrenzt, aber es gab keinen Eingang. Erst nach und nach entdeckte ich am nördlichen Ende des Parks, vom Bereich mit den Statuen durch einen Weg getrennt, unter dem dichten Herbstlaub Reste von Gräbern und Grabsteinen, auch von Blumenschmuck und einzelne Grablichter.
Ich begriff, dass dieser Friedhof trotz Google-Eintrag nicht (mehr) existierte. Wenn er geräumt worden war, warum waren dann aber einige Gräber „vergessen“ worden? Erhalten sind noch drei oder vier größere Grabstellen, so jene vom Kaufmann Julius Ludwig Wiener, geb. 1795, gest. 1862 und von einem Ehepaar Gerlach, die Frau Marie geb. 1855, gest. 1937. Bei Julius Wiener – auch Julius Liudvikas Vyneris handelt es sich wohl um eine Persönlichkeit der Stadt, was erklären mag, warum sein Grab noch erhalten ist.
Und dann einige kleine Grabplatten, die litauische Namen tragen. Manche Inschriften sind nicht mehr zu entziffern. Geheimnisvoll die Blumen und Grablichter, die ohne Kennzeichnung irgendwo im Laub oder an einem Baum stehen. Wer hat hier an wen gedacht? Müssen es nicht sehr alte Leute sein, die mit diesem Ort und den hier Bestatteten noch Erinnerungen verbinden? Vielleicht waren manche Antworten auch einfach unter dem Laub verborgen.
Ein Gedenkstein in Deutsch und Litauisch lieferte spärliche Informationen: „Im Gedenken an die Bürger der Stadt Memel, die hier auf dem früheren Friedhof bis zum 1944 ihre letzte Ruhe fanden. Arbeitsgemeinschaft der Memellandkreise in der Bundesrepublik Deutschland“.
Erst die späteren Recherchen geben mehr Auskunft, zum Beispiel auf einer Website über das „Unbewegliche Kulturerbe der Stadt Klaipeda: real und virtuell“.
Der Friedhof war 1820 gegründet geworden, aber es gab an dieser Stelle wohl schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen kleinen Friedhof, wo russische und preußische Soldaten des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) begraben waren. Nach der Gründung wurden hier Verstorbene aller Religionen außer Juden begraben. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Friedhof vernachlässigt und dem Verfall überlassen, 1974 begann man (die Stadtverwaltung?), die ersten Grabstätten aufzulösen und Zäune und Kreuze als Altmetall zu verwerten. 1982 wurde er komplett aufgelöst. Zwischen 1820 und 1937 waren auf dem Friedhof etwa 28. 930 Stadtbewohner begraben worden.
Ein Teil der schmiedeeisernen Tore, Zäune und Kreuze wurde vor der endgültigen Zerstörung von Dionyzas Varkalis, Schmied und Restaurator, gerettet, der später das Blacksmith Museum eröffnete, wo sie heute zu sehen sind.
Auf dem rechten Kreuz steht: Emilie Kroll, geb. Schirrmann, geb. d. 9t Novbr: 1846, gest. d. 30t März 1871.
Der deutsche Friedhof ist nicht der einzige in Klaipėda, der nicht mehr existiert. Ein weiterer zerstörter Friedhof in Klaipeda ist der jüdische Friedhof, aber auch er ist nicht völlig verschwunden. Das wird aber ein neuer Beitrag.